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Die erste Strecke

Und dabei hatte der Tag so beschissen begonnen.

Als ich in meinem Pensionszimmer in Westendorf aufwachte, fühlte ich mich krank. Aber schon sowas von krank; wie bei einer schweren Grippe fühlte ich mich. Nach dem Frühstück dann ging's bereits etwas besser und ich beschloß, auf den Berg zu fahren. Freilich nicht, um zu fliegen; nicht in meinem Zustand ! Aber "oben am Berg rumsitzen, das müßte drin sein; wofür hab ich schließlich die Saisonkarte ?", dachte ich mir. Der Schirm kam natürlich trotzdem mit; man weiß ja nie ....

Die Bergluft tat mir gut und so gegen vier Uhr nachmittags fühlte ich mich gesund genug, die Talfahrt nicht mit der Gondel anzutreten. "Optimales Wetter," dachte ich, "das wär' doch lächerlich, da jetzt nicht zu fliegen ! Ich mach halt keine großen Sachen, sondern hau mich einfach raus und flieg' runter und gut ist's". Dachte ich; jaja.

Was dann folgte, war einer der spektakulärsten Starts meiner Fliegerkarriere. Gut, daß ich das vorher nicht ahnte; hätt' ich's gewußt, wär' ich zum Lift marschiert !

Der Wind stand super an am Weststartplatz, doch gerade als ich zum Leinensortieren den Schirm an den Tragegurten aufzog, drehte er um neunzig Grad und kam genau von rechts. Mein Flügel machte diese Drehung logischerweise komplett mit und als ich ihn ablegte, zeigte das rechte Ohr gen Berg und das linke gen Tal. Sollte ich nun nochmal ganz von vorne anfangen ? "Nein ! Lieber probier ich's aus," sagte ich mir, "falls es nicht hinhaut, hab ich hier genügend Platz für einen gepflegten Startabbruch."

Ich hängte mich ein und stellte mich erstmal symmetrisch vor den Schirm. Dann machte ich drei Schritte nach rechts, also bergauf, so daß meine A-Leinen rechts durchhingen, links jedoch bereits gestrafft waren, denn das linke Ohr sollte ja zuerst hochkommen. Der Wind war von der Stärke her ideal; genau so wünscht man sich einen guten Startwind. Nur die Richtung war halt das Problem. Ich zog den Schirm auf.

Durch den schönen Wind funktionierte das Aufziehen ganz prima. Ruhig stand die Kappe über mir und ließ mir Zeit für einen ausgiebigen Kontrollblick. Bloß die Richtung; die war immer noch hangparallel. Ein letztes Luftholen, ein letztes Schlucken, und ich lehnte mich dem Wind entgegen und zog die linke Bremse.

Unverzüglich drehte der Schirm talwärts, unverzüglich brach er jedoch auch markant nach links aus. Aber darauf war ich ja gefaßt; mich überraschte höchstens die Rasanz, mit der er abhaute. "Unterlaufen !" schrie es in mir und sofort, meinen Körper in bedenklicher Schräglage nach rechts neigend und nun auch die rechte Bremse ziehend und die linke wieder nachlassend, spurtete ich diagonal über den Startplatz.

Dann hob ich ab.

Ich hatte es geschafft ! Ich war doch tatsächlich mit dieser völlig bescheuerten Startmethode in die Luft gekommen ! Und das Beste: ich fühlte mich phantastisch. Keine Spur mehr von miesem Befinden. Daran dachte ich überhaupt nicht mehr; das fiel mir erst Stunden später wieder ein. Im Augenblick hatte ich nur einen Gedanken: Aufwind suchen !

So steuerte ich die Westflanke der "Chor" entlang nach Norden. Dann bog ich um den Nordstartplatz. Dann hörte ich das Fauchen. Und dann griff der Sechsmeterbart in mein Segel. Zwei Schleifchen flog ich noch während es mich in meinen Sitzgurt preßte, dann war ich über dem Nordstart und konnte einkreisen. Mit enormer Schräglage zentrierte ich diesen Bart. Nein, ich war nicht wirklich entspannt; das muß ich zugeben. "Bloß jetzt nicht in die Randturbulenz reinfliegen," tönte der kleine Mann im Ohr eindringlich, "bloß jetzt auf's Nachzentrieren aufpassen !"

Hochkonzentriert kurbelte ich und die Sache mit dem Nachzentrieren erwies sich als äußerst wichtig, denn der Bart war durch den starken bayrischen Wind arg versetzt und führte in einem Winkel von schätzungsweise fünfundvierzig Grad schräg in den wolkenlosen Himmel. Ich sah, wie unter mir am Startplatz jemand mit seinem Schirm kämpfte und ich sah die Landschaft immer kleiner werden. Wie wenn man aus einer Panoramakarte herauszoomt, so schaute das aus. Und immer sah ich, am Blickfeldrand noch deutlich unter den Horizont ragend, die gelbe Flügelspitze meines geliebten Frantic durch die Luft pflügen.

Längst war ich durch den Versatz des Aufwindschlauches über Nachbarbergen angekommen und noch immer nahm das Steigen kein Ende. Ich kreiste und kreiste, es wurde kalt und kälter. Das Vario piepste unverdrossen und ich hatte das merkwürdige Gefühl, ins Weltall geschossen zu werden. Und ich kreiste weiter.

Irgendwann wurde dann doch das Piepsen langsam ruhiger und meine Kreise wurden langsam flacher, doch immer noch war kein Ende abzusehen. Dann kam der Moment, wo mir die Kälte so zusetzte, daß ich den Bart verlassen mußte. Aber inzwischen hatte er auch schon viel an Kraft verloren gehabt; wesentlich höher wäre er vermutlich sowieso nicht gegangen.

Ich ging also in den Geradeausflug über und hatte nun endlich Zeit, mich zurückzulehnen, zu entspannen, und mich überhaupt einmal umzuschauen, wo ich denn eigentlich war.
Huh !
Das Gefühl durchdrang mich bis in die Knochen; es war wirklich gruselig. In vollkommener Einsamkeit schwebte ich in einer unendlichen Weite, die Erde unter mir war zur abstrakten Landkarte reduziert, zu der ich keinen echten Bezug mehr verspürte, und wenn ich nach oben sah, schien es mir, als ob sich nur ein paar Meter über der gelben Kappe meines Schirms diese gigantische hellblaue Kuppel spannte, zum Greifen nah. Mehrmals hörte ich mich selber aufstöhnen; es war einfach zu überwältigend. Der Höhenmesser verriet mir dann die Wahrheit: ich war über dreitausendzweihundert Meter hoch.

"Und ? Was machen wir jetzt ?"
Ich sprach die Frage laut aus. Zwar hatte ich diese ganzen Eindrücke noch längst nicht verdaut, aber ich mußte meinen Frantic einfach fragen. Oder besser gesagt, ich hatte irgendwie das Gefühl, er habe mir diese Frage gestellt und ich mußte sie nur in Worte fassen. Und die Antwort lag auch auf der Hand: "Heute ist es so weit: heute ist die erste Strecke fällig ! Und zwar gleich das Pinzgau !" In dieses berühmte Tal konnte ich nämlich von meiner Warte bereits wunderbar hineinschauen. Mehr noch: wenn ich zwischen den schroffen Gipfeln des Hauptkammes hindurchpeilte, sah ich bis nach Südtirol. Und so machte ich mich auf den Weg.

Voller Selbstsicherheit durch mein gewaltiges Höhenpolster ließ ich mich vom Rückenwind anschieben auf meinem Flug nach Süden. Auch als das Brechhorn schon hinter mir lag, war ich noch zuversichtlich, daß ich über dieser Bergkette, deren Rücken ich entlangflog, doch noch das eine oder andere Steigen finden würde. Dann könnte es nicht mehr schwer sein, die andere Kette zu überwinden, die vor mir querliegende Ost-West-Kette, die mich vom Pinzgau trennte. Und anschließend könnte ich das Pinzgau entlangfliegen, so weit der Flügel trägt, um nach der Landung auf einer der dortigen komfortablen Wiesen per Anhalter retourzufahren.

So hatte ich mir das gedacht.

Doch vorher kam noch ein wundervoller Schock. Ich habe wirklich keine Ahnung, wie ich so einen Giganten so lange total übersehen konnte, aber ich realisierte seine Anwesenheit erst, als ich schon fast auf gleicher Höhe neben ihm war. Da fiel mein Blick plötzlich nach links auf den Großen Rettenstein und ich erschrak buchstäblich. Es ist schwer zu beschreiben, was ich empfand bei diesem Anblick, was ich empfand, als ich fast in Reichweite und noch nicht viel unter seiner Gipfelhöhe an dieser unglaublichen Felspyramide vorbeiflog, die aus einem niedrigen bewachsenen Sockel tief drunten im Tal mit ihren nahezu senkrechten kahlen Wänden bis ins blaue Firmament aufragt.

Nach diesem Erlebnis hielt dann langsam eine gewisse Nüchternheit Einzug in meine Gedanken. Noch immer hatte ich keinerlei Thermik gefunden, inzwischen aber schon reichlich Höhe verloren. Ganz allmählich drang die Erkenntnis in mein Hirn, daß meine Pinzgaupläne vielleicht doch nicht so einfach zu verwirklichen waren, wie ich mir das in meiner kindlichen Naivität ausgerechnet hatte. Aber ich wollte es wirklich wissen ! Ich wollte lieber einen langen, langen Fußmarsch riskieren als auch nur einen Meter zu früh aufzugeben. Stur flog ich, bis rechts unter mir der Talschluß der Windau erreicht war, jenes Tales, das von Westendorf aus nach Süden bis zur Rückseite jener Berge führt, die sich nun hoch vor mir aufbauten und mir den Weg ins Pinzgau versperrten.

Eine Reliefstruktur unter mir, eine "Nase", lockte mich. "Wenn irgendwo noch was geht, dann da," überlegte ich, und begann den Luftraum über diesem Vorsprung zu erkunden. Und tatsächlich: ein Bart ! Doch die Windau bildet dort hinten eine Düse und der Wind, der mich vorher in der Höhe so fein angeschoben hatte, wirkte sich weiter unten ziemlich fatal aus. Mein "Rettungsbart" war von dem monströsen Wind dermaßen verblasen, daß ich es nicht schaffte, ihn einzukreisen. Mehrmals versuchte ich es, mehrmals schmiß er mich leeseitig wieder raus.
"Jetzt langt's, jetzt wird geachtert !", sagte ich mir, enterte den bockigen Kerl erneut und kehrte ab da dem Wind nicht mehr den Rücken zu. Es funktionierte. Aber komfortabel war's nicht. Jede einzelne Achterschleife, die ich flog, war mit mindestens zwei Klappern garniert, denn bei jeder Kehre fing ich mir eine "Watschn" ein, obwohl ich so eng achterte, wie es nur ging, ohne das Steigen zu verschenken. Immerhin konnte ich dem ruppigen Burschen auf die Art doch noch einige Höhenmeter rauslutschen. Waren es hundert ? Waren es zweihundert  ? Ich weiß es nicht; allzuviele waren's jedenfalls nicht; dann war er weg; endgültig verblasen.

Ganz hinten war ich; im Talschluß über der allerletzten landbaren Wiese. Vorher aufzugeben war ja an diesem Tag für mich nicht in Frage gekommen. Zu versuchen, weiter zu fliegen, kam erst recht nicht in Frage, denn da wurde es dann steil und felsig: unlandbar. So hing ich nun in der Luft; wieder mit Blick nach Norden gen Westendorf, durch den Elendswind praktisch ohne Vorwärtsfahrt, langsam aber sicher senkrecht meiner Wiese entgegensinkend. Und zum ersten Mal wurde mir so richtig klar, wie lang dieser Fußmarsch wirklich werden würde. Aber noch hatte ich ein paarhundert Meter über Grund.

Gerade erst in den Tagen vorher hatte ich mein Speedsystem endlich in einen einsatzfähigen Zustand gebracht gehabt. Nun war der Zeitpunkt gekommen, das Ding einmal im "Ernstfall" zu probieren; ich hatte ja sonst eh nichts mehr zu tun bis zur Landung. Also fischte ich es aus seinen Sitzbrettschlaufen und trat es langsam durch bis zum Anschlag. Klasse ! Es ging wieder vorwärts. Zwar im Schneckentempo, aber immerhin.

Schon suchte ich mir die nächste Wiese in Flugrichtung voraus: "Mal sehen, ob ich bis zu der da vorne komm."

Wär' nicht schlimm gewesen, das nicht zu schaffen; in dem Fall: umzudrehen und mit Rückenwind zu "meiner" Wiese retourzufliegen wär' ja wirklich kein Problem. Doch ohne viel Mühe kam ich so weit. "So; die gehört mir jetzt. Schaun wir mal, ob wir bis zu der da kommen. Das wären dann schon wieder dreihundert Meter Fußmarsch weniger." Auf diese Weise "hangelte" ich mich von Wiese zu Wiese aus dem Talschluß zurück. Langsam zwar, aber auch mit vermindertem Sinken, denn schließlich hatte der Gegenwind eine Aufwindkomponente, da er ja talaufwärts strömte.

Nachdem ich die Düse verlassen hatte, wurde auch der Wind etwas zivilisierter und mein Fortkommen zügiger. Ein- oder zweimal versuchte ich sogar, schwaches Steigen einzukreisen. Dabei waren jedoch nur "Nullschieber" ohne Höhengewinn drin und da recht eindeutig war, daß sich die Bedingungen um diese Uhrzeit nicht mehr verbessern würden und "Einparken" somit keinen Sinn hätte, gab ich wieder Gas und nahm fürderhin in erzwungenem Delphinstil solche Steigbereiche im Geradeausflug mit leichter Bremse mit, um dazwischen wieder voll zu beschleunigen.

Als ich nach einigen Kilometern über reinem Urwald dann ein Haus mit Autos davor sah, jubelte ich. "Super; Haus mit Autos ! Ich werd' in der Nähe von so einem landen. Da find' ich bestimmt jemanden, der mich mitnimmt." Ich war happy. Aber noch hatte ich etwas Höhe zum Weiterfliegen.

Wenn mir dort hinten in meiner Talschlußfalle einer gesagt hätte, ich würde es fertigbringen, bis nach Westendorf zurückzufliegen, hätte ich ihm nur was von "Dachschaden" geantwortet, so völlig utopisch war diese Idee gewesen. Selbst jetzt glaubte ich noch nicht daran. Es war mir auch egal. Mir fehlten nur noch drei oder vier Kilometer und ich war mir sicher, diese problemlos per Anhalter zu überwinden.

Meine Resthöhe war inzwischen sehr geschrumpft und ich hatte noch höchstens zweihundert Meter über Grund, als ich den Heuwender entdeckte. Für einen Flieger ist so ein Bauer, der mit dem Traktor über sein aufgeheiztes Heufeld rumpelt, eine pure Augenweide. Ich flog über ihn und konnte prompt nochmal hundert oder hundertfünfzig Höhenmeter schinden. Jetzt trennte mich nur noch ein kleiner Waldrücken vom Ziel. Der überragte mich allerdings. Nun; unmittelbar vor ihm war eine feine große Wiese; etwas schräg zwar, aber einladend. Da ich, dort angekommen, die vielzitierte "doppelte Baumwipfelhöhe" eindeutig nicht mehr hatte, wagte ich es nicht, diesen Wald frontal anzufliegen. Statt dessen schummelte ich mich ganz schüchtern seitlich über die erste Baumreihe, um im Fall eines Klappers oder auch nur Zusatzsinkens sofort abdrehen und auf besagter Wiese einlanden zu können. Es war jedoch kein Zusatzsinken, das mich dort erwartete. Kaum war ich über den Bäumen angekommen, begann es zu piepsen. Der Wald atmete seine tagsüber gespeicherte Wärme aus und hob mich sanft über das letzte Hindernis. Ich war zurück in Westendorf !

Am Landeplatz lachten die Leute dann wieder über mich, über den Spinner, der im Kreis um seinen Schirm herum hopste und tanzte.

 

Hier ist übrigens ein Foto von mir mit meinem alten Frantic in Westendorf.
Die geflogene Distanz hab ich auf der Landkarte nachgemessen.
Es waren 24 km; 12 hin und 12 retour.




                                                               andy


© Andy Angerer
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